Montag, 9. August 2021

Gefangen frei

In den kalten Boden ritzt sie mit einem Sandstein schöne Worte. Wie Marmelade, Kakadu, Lebkuchenherz, Sonnenschein. 

Ihre Finger folgen sanft den schmalen Rillen zwischen den Platten. Das ist wohltuend, weil sie sich ganz auf das konzentriert, was ihre Fingerkuppen erleben. So spürt sie ihre Schmerzen und die Kälte viel weniger. 

Wenn sie genug Spucke im Mund sammeln kann, malt sie mit dem Finger schnell vergängliche Bilder.

Zwei Platten unter dem kleinen Vasistas hat sie reserviert. Da kritzelt sie nicht und malt nicht, denn diese zwei Platten sind ihr Bett. Man geht ja auch sonst nicht mit Schuhen und Schreibutensilien ins Bett, oder?

Müde schließt sie ihre Augen und stellt sich vor, in einem königlichen Himmelbett zu liegen.

In einer Ecke des Dachstuhls spinnt ein Achtbeiner ein Netz. Im Morgengrauen, wenn es noch kalt und feucht ist, glitzert es wie ein Diadem.

Wenn der Hunger groß ist, steckt sie einen Zwickel ihres Hemds in den Mund und saugt daran. Das ist tröstlich.


Wo ist die Zeit? Hier nicht.

Ist sie nicht alleine dort, wo etwas geschieht? Sie hat keine Zeit – kein Heute, weil es gleich ist wie das Gestern.

Ihre Struktur sind so etwas wie Regale. Dahinein sortiert sie ihre wichtigsten Besitztümer. In einem Fach wohnen Gedanken, in einem anderen Vorstellungen und kleine, ganz kleine Hoffnungen. Im untersten Regal verstaut sie Schmerzen und Ängste. Die schiebt sie weit nach hinten in das Regal, um Abstand zu schaffen

Ein besonders schönes, schimmerndes Fach enthält ihre Sehnsüchte. Vor allem die nach lieben Menschen und einem kleinen Hund.

So alleine wird das Sehnen tatsächlich zur Sucht.


Sie besitzt in all dem Kargen etwas ungemein Wertvolles: Fantasie und Vorstellungskraft, was nicht das Gleiche ist. Vorstellen ist realer und fantasieren ist weniger an Möglichkeiten gebunden.


Sie hat eine Platte ganz in der Mitte ihres Zuhauses ausgewählt, auf der sie meditiert und betet. 

Dort kommen ihr oft die Tränen - mal, weil sie ihren inneren Schmerz spürt, mal weil sie berührt ist von der Gegenwart Gottes. Wenn sie sich mit ihm unterhält, nennt sie ihn manchmal respektvoll Herr Gott, was absolut nichts mit „Herrgott“ gemein hat. Den Herrn Gott kann sie kennenlernen, während sie mit dem Herrgott nichts anzufangen weiß.


Schritte auf der Treppe. Gut gedrillt dreht sie sich mit dem Gesicht in eine Ecke, damit sie nicht erkennen kann, wer da kommt. Sie würde viel dafür geben, ein paar Worte mit dem Menschen zu sprechen. Einmal hat eine junge Männerstimme etwas gesagt, das sie nicht versteht. Sie solle brav sein, dann würde es gut enden.

Wie kann sie denn hier oben NICHT brav sein; macht sie etwas falsch?


Als sie aufwacht, erschrickt sie fast zu Tode: sie liegt auf einer Art Matratze und unter einer Decke. Nachdem der erste Schreck überwunden ist, weint sie herzergreifend über diesen Luxus. Auch steht ein Becher mit einer heißen Flüssigkeit in Reichweite, undefinierbar aber heiß. Herrlich!


Sie ist gestärkt und voller Tatendrang. Sie tanzt um ihre Gebetsplatte und spürt großes Glück tief in ihrem Herzen. Sie feiert diesen besonderen Morgen mit einer Reise nach Hawai, liegt im warmen Sand, hört das Meer rauschen und fühlt sich frei.

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